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J18–20

J18

Heiss

Auf dem Markt ist noch was los

Ferienstimmung

Einen heben

 

Man geht zu Fuss

Massen strömen

Belebter Park

Sonnenuntergang und Wünsche

 

„Dass ihr ja nicht ertrinkt!“

Die Boote treiben schon

Auch an diesem Abend sammeln sie Pfanddosen

 

Heiss

 

Schreiten

Wie Elfen, alle sind so schön

Sich zuprosten

Anstossen

Anstehen

 

Durch den Wald

In die Stadt

Pink, kitschig

 

Es wird Morgen

 

Ein Ort ist noch geöffnet

Dort sind alle

Ohne Kante geht’s nicht

 

Citygrill

Heiss

 

 

J19

Freude auf Erden

 

Festliche Stimmung

Alle beisammen

Wie Weihnachten im Sommer

– nur ohne Geschenke und doppelt so viel Alkohol

 

Man ist vorbereitet

Kapuzen vermummen

Lange Hosen verdecken

Fuchteln der Hände,

als ob man in den Krieg zöge

 

Crocs

 

Hier grüssen, dort vorstellen

Jenkka, Polka

Und majestätischer Tango

Das Orchester ist aufgetragen

 

Losgewinne werden noch vom Schiff obenabe gerufen

Branntwein aus Jackeninnentaschen serviert bekommen

Unter Birken stehen und schlucken

 

Knistern des Feuers

Prasseln des Regens

Surren der Mücken

Kratzen der Nägel

Rufen der Eulen

Öffnen der Dosen

 

Plötzlich ist der Himmel rot

Alles eingefärbt

Nur der Fluss bleibt schwarz

 

Fledermäuse die kreisen

Nach-Mitternachtssauna

Zeit vergeht, das war der Sommer

 

Friede auf Erden

 

J20

Der Tod ist allgegenwärtig

Zucken – starre, glasige Augen

Auch die Fische

 

Fette Mücken

An die Wände geklatscht

 

Fette Bäuche

Aus dem Bett geholt

 

Kein Schlaf

Das Surren in den Ohren

Das Gift in der Lunge

 

Stärkegrad: Kunstsoffzerfressend

 

Erinnerungen

Vorfreude

Danke

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J15-17

J15

Schlaflose Nächte,

wenn die Sonne erbarmungslos in die Fresse strahlt

schwitzen, sich wälzen

 

Aufstehen

Fühlen wie die Stadt erwacht

 

Einige habens noch nicht begriffen, 22° C – Handschuhe und Mütze

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

 

Um den Tag ausklingen zu lassen,

spielt man Frisbee

 

Oder fischt

meditativ

 

Der Mann freut sich immer sehr, wenn ich ihm meine Pfand-Dose überlasse

Das Erbe

 

Man spricht über Soldiers of Odin, WTF

Über Perussuomalaiset, WTF

Zieht Vergleiche

Und ist glücklich darüber, auf einer Wellenlänge zu sein

Als ob die Möwen mitlachen würden

 

Montags gings schon rund

Man klammert sich ans Wochenende

 

Hauptsache schwarze Eiscreme im Gesicht und niemand sagt etwas

Der Abendsonne mit müder Visage zurückstrahlen – nimm das.

 

J16

S’fischelet

Alles stinkt nach Fisch

Tag versaut

Tick-artig werden die Finger an die Nase geführt

Es wird notiert: sie stinken noch immer

 

Bisschen Regen stört uns nicht

Trinken kann man immer

Man telefoniert

Schön, zu acht

 

Die Ferien werden vor dem letzten Arbeitstag schon eingeläutet

Vor den Sommerferien werden die Beine gezuckert

 

Hier gibt’s kein Aperöle – man trinkt

Und dann vielleicht essen

 

Die Terrasse macht um 20:00 zu

Aber für uns

 

Die Zöpfe wehen im Wind

Morgen

Kiddies tragen übergrosse Sonnenbrillen

Kole – Cool

Pizzaduft strömt herüber

Man sagt, dort, dort ist sie fad

 

Opis mit Hipsterrucksäcken

Und ach alles ist ja so toll hier – ja.

 

Man bereitet sich vor

Das grosse Fest

Einkäufe, Alko

Wer führt noch die traditionellen Bräuche durch?

 

Trinken.

 

J17

Komm zurück, jetzt.

Ein letztes Mal lieben

Kosen, berühren

 

Entkleiden

 

Du rochst so gut

Du küsstest so gut

Du hieltst so gut

 

Zu dir oder zu mir?

Spüren, Fühlen

Kaum sprechen

 

Sich in den Schlaf drücken

Streichen, träumen

 

Ankleiden

 

Uns bleibt nicht mehr viel.

Komm zurück.

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Reisen Text

J9-14

 

J9

Camouflage ist hier noch geil

 

„Sind si dänn en richtigi?“

Ja, was bin ich denn nun?

Schweizerin in Finnland. Finnin, Rückkehrerin?

 

Sein.

 

J10

Schönheit, pur

Blütenstaub tanzt im Sonnenlicht

Sanfte Regentropfen

Was für eine Sicht

 

Glitzer liegt in der Luft

Tief blau schwappt ans Ufer

Leichte Musik im Hintergrund

Das ist Sommer, Regen und Sonne

 

Blumenduft und Ruderschläge

Schiefe Birken

Grashalme, die an den Waden kitzeln

Über die Wangen streicht der Wind

Hei

 

Natur und Stadt im Gleichgewicht

Suomi

Und dann noch doppelter Regenbogen

Tropfen auf den Augenliedern

Welch ein Glück

Grübchen und Kaffee

Was für ein Leben

Leichtigkeit

Sinnlichkeit

Sitzen bleiben.

 

J11

Wer versucht zu lesen,

hat das Lallen der anderen im Ohr

 

Zigaretten wirft man aus dem fahrenden LKW

Manchmal auch eine leere Glasflasche,

die am Boden zerschellt

 

Werbung wird Abends noch von Menschen mit Migrationshintergrund ausgetragen

Man geht walken, alle! Schlechtes Gewissen ob all dem sportlichen Treiben.

Schwarze Leggings, pinke Laufschuhe.

 

Drinnen sitzen zwei Mädchen,

wie aus dem letzten Jahrhundert

vor ihnen schlechter Wein, blaue Kulleraugen, grau

lüsterner Blick

draussen strahlt die Luft

 

es gibt die coolen Alten, in kurzen Blümchenkleidern und schicker Frisur

und die alten Alten, die zu Hause backen und die Füsse aus den Pantoffeln quellen haben

 

die Russen haben Rostkarren

die Finnen haben Getuntes

 

dort 2€, hier 4€

in jedem Fall Rinde vor dem Gesicht

und die nebenan schreibt auch Gedichte

der, der vor ihr sitzt, ist begeistert, ist ihr leben doch besser, als seins

 

vittu, vittu, vittu

einer sagt „das Leben ist vorbei“

alle stimmen ein, im Chor und nicken

 

in Gummistiefeln in die Bar

das Skateboard zwischen die Knie geklemmt

 

er spricht über Evolution und schaut auf die Uhr

Nicken, Lächeln

„die 20 Frauen die auf dem Eis drehen und Bilder machen…“

 

ist es nicht viel schöner bei Bodenheizung zu scheissen, als bei zugefrorener WC-Tür?

 

Irgendwelche Freunde… die haben… Jaja.

 

Mundharmonika, immer wieder das gleiche musische Thema, Blues oder Jazz.

 

Aha.

 

J12

Einmal aufblicken, Sonne, Wärme

En andermal aufblicken – wie eine schwarze Wand rollen die Wolken über uns heran

Leute stehen auf, verschwinden, grosse Angst vor der Nässe

Die Vögle spielen verrückt

Fahnen flattern im Wind

Kriegsstimmung

Endzeitstimmung

Bewegung und dann Stillstand

 

Pfannkuchen und Kaffeeduft

Grelle T-shirts, lahme Massen

 

Fahrrad fahren ist gefährlich

Einfache Karte

Gittersystem

 

Änetm Fluss

Bahnhof und Kultur

Freiwilligen Arbeit

Männer in Röcken und Bart

 

Hier bleibe ich.

 

Wohlfühlen,

Wohnzimmer

Willkommen sein.

Weiter so.

 

J13

Bar rein, Jacke aus, 2€.

Heisse Türsteher, so echt.

Sie wirft das Glas um, schriet „ich wars.“

 

Und die Deutschen: „dat is ja ga cheine spilunke hea“,

„ne dat is ebn finnisch hea“

fragt nach Stuhl.

Ich so: „Nimm ihn nur“

Er so: „riiiliiii – bat äj cän sit hea wis juu?“

Ich so: …

 

Man hilft sich in die Jacken

Karohemde und Nietengürtel

 

Sie sitzt am Spielautomaten, allein

Der Gewinn wird gleich wieder verprasst

Er trägt Lilabeige karierte, mit türkisen Spitzen, Socken

– in Sandalen

 

alte Herren versuchen sich in Dancemoves

für die EM hat hier kaum jemand einen Blick übrig

hinter der Bar stehen ja auch starke Rockerbräute

 

man schwankt, kippt, fasst sich, trinkt weiter

halb 10, zu, bis oben.

Sonntags gibt’s dann alles ums dreifache billiger

Man hat ja sonst nichts zu tun

 

Auf versteckte Gesangtalente hofft man lange

Stoisch starren sie auf die schnell voranschreitenden Songzeilen,

immer ein bisschen im Rückstand

wer hier singt, hat nichts mehr zu verlieren,

wer hier tanzt, hat 0 Hemmungen

 

Hauptsacke der Kopf nickt zu Tangoballaden in Rockmanier mit.

 

Ü40, keine Frage!

 

J14

Sie war ein Baum

Er war ein Fluss

Ich war ein Vogel

 

Wenn alte Herren fragen, warum man ist.

 

Die Guten sind verlobt.

 

Umfallen

Blutende Knie

 

Ich war ein Vogel

Gegen die Scheibe geflogen.

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Reisen Text

J7-8

J7

Leitungswasser, runde Pos und Jungs in Fracks

Hier hört man gerne Rockmusik

Motherfucker Rap misst sich

Teures Bier und Hochzeitfeierlichkeiten

 

Ach, man sieht die Leute eh nie wieder. Oder doch?

Sehen alle gleich aus. Oder doch nicht?

Stereotypen

 

Anniskelualue pääty

 

Hier werden betrunkene DJ’s torkelnd aus dem Club gezerrt

Türsteher sind nett

 

Spucke im Gesicht und Jungs die buhlen

Die gleichen Menschen seit 23 Uhr

Geschminkte Gesichter, schwarz auf weiss, verschmiert

Netzwerk, Freunde erkennt man an den Flecken auf den Wangen

 

Salmari und verwirrte Blicke.

Ein lächeln, nicht mehr.

 

Prost

 

J8

4 Uhr, als wärs Nachmittag

sich stützen, umherblicken

abwarten

 

die schlechte Musik tönt noch in den Ohren

Emoboys in aufstrebenden Eletropop Bands

 

Walk of shame

Betrieb auf dem Markplatz

Wieder die gleichen Gesichter

Man trinkt noch Bier

müde

 

Cowboystiefel und Rastas

Man sieht sich.

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Reisen Text

J4-6

J4

In den Socken im Laden

Über den Boden rutschen

Sich heimisch fühlen

 

– in der Bibliothek darf man essen,

Kaffee trinken.

Kinder schreien, niemand beklagt sich.

 

Locker. Leicht. Einfach.

 

J5

Wir fahren durch die grüne Moorlandschaft

Die Sonne im Rücken, Wolken voran

Nightwish klingt ab der CD

Und das Salmiakkieis zwischen den Fingern.

 

Hier fährt man keine Mofas,

Aber 50 km/h Autos.

Endlose Strassen, Kurven und Hügel

 

Grosse Regentropfen

Wie Kristalle, fallen von Birkenästen.

 

– man starrt aus dem Fenster

wer war das? Wer fährt da?

Eine kleine Aufregung

Und dann wieder allein.

 

Das Bier ist kalt , die Sauna heiss

Die Zeit vergessen, kein Dämmern

Kein Netz, Moskitonetzte nur

Schwarzes, tiefes Wasser.

 

Und der Gedanke an dich.

 

J6

„And here we have the Asphaltroad

And here the forest

Oh, and you see, over there, one cyclist.“

 

Wir zählen die entgegenkommenden Autos

1, 2.

 

Suburban nennt man hier die Einfamilienhäuser

 

Proviant im Gepäck

 

Was, du hast keinen TV zu Hause?

 

Wir kommen wieder, danke.

 

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J1–3

J1

Sieben Grad, steiler Wind

(man sieht auch Handschuhe)

Sommer in Finnland

Sonntag, so richtig

Montage vieles noch zu

 

Abends dann doch in der Kneipe

Musik der 80er

Frauengruppen, kreischen

Singles die knutschen, torkeln, zu wem gehen sie wohl?

 

70-jährige Herren

setzt sich zu uns

Eiskochey und er sei ja kein Rassist

Muss noch Schnaps kaufen, um die nächste Nacht zu überstehen

 

Der hinter der Bar rennt, als wär’s Wochenende

Viele Geschichten, die gleichen Gebäude

Im Hafen tanzt man und

das Schiff fährt nur mit mindestens 10 Passagieren

 

Flyer für die Pilzsammel-WM

Kaffee supplement und kein Lächeln

Halb elf, Nachts – man trägt Sonnenbrille

Morgen raus, 7 h Arbeitstage

 

Nordkarelien, nahe der Grenze.

 

J2

Man beginnt mit Kaffee

Vor Feierabend hatte man schon 7

Dann essen im Restaurant, Nachts ein Club

 

Wo man in Joensuu denn den Spass fände – ach heute nicht, sie ist gerade in der Nachbarsstadt

 

Möwen, ohne Meer

Mücken ohne Blut

Hier will man seine Asche verstreut sehen

 

Dieses Jahr war Sommer am letzten Samstag zwischen 17 und 18 Uhr in Rauma

 

Dicke Menschen, farbige Haare, Socken in Sandalen

Und ab und zu ein Goth

– und Russen

 

man fischt

nach Sonnenschein

Liebe

und Pfandflaschen.

 

J3

Sibelius kam um die Ecke

Niemand hört zu.

 

Mit Filzpantoffeln rennt man über den Hof

Es hat gestürmt

Spät kommt die Sonne

– geht nie unter.

 

Kleiner Samstag

Um 21 Uhr PoprockJam

Einsame Männer sitzen an der Bar

Dazwischen immer ein freier Hocker

Lederhüte, Dauerwellen und Sonnenbrillen

 

Und der neben mir, der schläft

Jungs die alleine Zeitung lesen

50+ Girls mit Schwänzchen

 

Die Band spielt

„extra melancholisch für das finnische Saufvolk“ tönts

Junges Paar versucht sich am Spielautomaten

Altes Paar schwelgt in Erinnerungen

Barkeeper hat’s nicht nötig.

 

Mittwochs in Nordkarelien. Zeitlos.

 

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Schlaf

Leb lang
Spring weit
Schrei laut
Fall tief

Fall hoch
Lieb wen
Steh auf
Tanz wild
Sieh zu

–geh–

schlaf ruhig
schlaf ewig
schlaf schön.

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Norden

Die Finger frieren

Mensch verliert seinen Hals

Und sogar die Fürze bleiben in der Luft stehen

Vögel fallen steif von den Bäumen, Tod

 

Kunstschnee ist nichts

Wie Fischgräte und Omas Spitzen, tragen die Bäume weisse Äste

Nachmittags schon Abend

Wolfsrudelspuren

Freigabe zum Abschuss

 

Viel Kaffee, viel Gebäck

Man heizt mit Holz und Fett

Ist das Eis dick genug?

Schneelichter bauen, halten bis zum Frühling

 

Sie schnarcht, er malt

Orange auf Weiss

Nachts Grün auf Schwarz

Sich schlafen legen, wünschen der Sommer kehre nie wieder.

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Amarylliszwiebel

Jamima wollte ihrer Tante eine Freude machen. Sie schlenderte im Kaufhaus umher und überlegte sich, was sie Schönes kaufen könnte. Ihr Blick viel auf einen kleinen Blumenladen, der zwischen den Läden der grossen Labels kaum auffiel oder eben gerade, weil er so klein war. Sie betrat den Blumenladen ging aber gleich wieder raus. Sie hatten vor dem Laden einige schöne Blumen aufgestellt, welche sich Jamima zuerst ansehen wollte. Draussen ist es unter null und dort im Kaufhaus drin herrscht wohlige Wärme, welche die Blumen farbenprächtig gedeihen lässt. Sie nimmt ein Töpfchen in die Hand – grüne, zackige Blätter, fleischig und dick, kaum Blüten. Sie stellt das Töpfchen wieder hin und sieht sich weiter um. Der Rest ist zu teuer oder unpassend, findet sie. Also betritt sie den Laden erneut, in der Hoffnung im Innern ein geeignetes Pflänzchen kaufen zu können.

Natürlich könnte sie auch selber etwas basteln, denkt sie. Oder malen, wie sie es oft tut, doch Jamima ist bei ihrer Tante nur zu besuch und hat nicht das geeignete Werkzeug dabei.

Im Blumenladen riecht es angenehm nach Erde und Pflanzendünger. In einem gläsernen Kühlschrank stehen einige Blumen. Daneben befindet sich die Kasse. Dort entdeckt Jamima in rosa Geschenkpapier eingepackte Amarylliszwiebeln. Fein säuberlich ist das Papier um den Hals der Zwiebel geschnürt und mit unechtem Schnee besprüht. Sie hat die gleichen Pflanzen eben noch im Kühlregal gesehen, unverpackt. Jamima entschliesst sich eine Amarylliszwiebel, die rosarot eingepackt ist, zu kaufen.

Sie macht gerne Geschenke, achtet aber immer auf den Preis. Er liegt im Rahmen bei diesem Amaryllispflänzchen und sie ist sehr zufrieden mit ihrem Einkauf. Um die Zwiebel vor der Kälte zu schützen, packt sie es in ihren Rucksack. Wie ein fragiles Ei trägt sie es auf ihrem Rücken nach Hause zu ihrer Tante. Gleich angekommen, überreicht Jamima ihrer Tante das Geschenk. „Oh du gutes Kind“, sagt ihre Tante und packt die Amarylliszwiebel umgehend aus. Jamima schaut zu. Die Tante meint, dass sie wohl die rosa Verpackung wegmachen müsse. Jamima versteht nicht sofort doch erkennt, dass die Blume sonst nur schwer wachsen kann. Ihre Tante holt die grosse Schere aus der Küchenschublade und schneidet das silbern glänzende Bändchen, das um den Hals der Zwiebel gebunden ist und das Papier daran befestigt, ab. Jamima äussert, dass sie den Kunstschnee sowieso nicht schön fände und ihre Tante meint daraufhin „Gut, ich dachte du hättest es deswegen gekauft.“ Die rosarote Geschenkverpackung landet im Mülleimer. Auf dem Esstisch im grossen und hellen Wohnzimmer findet das nun nackte Töpfchen seinen Platz.

Jamima verzieht sich in ihr Zimmer, das Gästezimmer und Büro ihrer Tante. Jamima überlegt und erkennt, dass die rosarote, mit Kunstschnee besprühte Verpackung der Amarylliszwiebel 1.80 zusätzlich gekostet haben muss. Sie erinnert sich, dass im Kühlschrank im Blumenladen die ein und dieseleben Töpfchen mit den Amarylliszwiebeln standen, nur ohne Verpackung. Sie waren 1.80 günstiger angeschrieben als die verpackten Pflanzen auf dem Kassentisch. Wieder einmal hat Jamima versagt.

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Keller Text

Stellenspaltung

Ein Ergebnis des Kollektivschreibens aus dem Workshop für szenisches Schreiben.

Stellenspaltung – geschrieben von 10000 Affen, einem Stein und zwei Antilopen.

In einem Vorlesungssaal. Zwei Studenten sitzen still und zuhörend da, hinter ihnen stehen ihre jeweiligen Stimmen (A und Baum) und unterhalten sich. Vorne steht ein halber Elefant als Dozent und hält eine Vorlesung über Gentechnik. Die offene Hälfte ist mit Frischhaltefolie vakumiert.

A: Also, zu meiner Zeit hatten wir noch ganze Elefanten!

Baum: Das liegt an der üblen Wirtschaftlage. In Peking haben sie 2100 Fabriken zugemacht, jetzt kann man nur noch die Hälfte produzieren. Die bestehenden Elefanten hat man aus Ressourcenmangel halbieren müssen.

A: Hab gehört seine andere Hälfte referiert nebenan über das Klonen von Regenwürmern.

Der halbe Elefant spricht mit einem Sprechfehler mangels halbem Mund, nuschelt unverständlich vor sich hin.

Studenten schreiben wie wild auf ihren Laptops los, spähen auf die PCs ihres Gegenübers.

Alte Frau von hinten: WAT HAT ES GESAGT?!

Baum: Psst! Ist ja ganz einfach:

Das Licht verändert sich auf dramatische Weise und richtet sich auf Baum.

Baum: Jedes arbeitsfähige Wesen arbeitet heute rund um die Uhr, wenn möglich sogar doppelt. Daher tritt der natürliche Fortpflanzungstrieb in den Hintergrund und fällt in die Hände der Wissenschaft. Jene Leute, die, rund um die Uhr und sogar doppelt im Labor arbeiten, können aber dem Bevölkerungsschwund entgegenhalten, indem sie in Reagenzgläsern menschliche Phöten anpflanzen – wie bei den Williamsbirnen.

A: Ja, ja, genau. Die Reagenzgläser sind aus bestem chinesischen Porzellan hergestellt. Dessen Mikrostruktur dehnt sich mit dem Wachstum des Phötus aus. Später nimmt es die Form des Embryos an. Sobald das Baby alleine lebensfähig ist, wird seine Porzellanfassung von mindestens hundertjährigen Zen-Meistern bemalt, denn die spezielle Zittertechnik ist unabdingbar.

Baum: Die Babies in ihren bemalten Porzellenhüllen können dann in verschiedenen Discounter-Supermärkten bezogen werden. Habe selber schon ein paar gesehen, mir sogar überlegt, ein paar Babies mitzunehmen. Aber bei jeder dieser Gelegenheiten hatte ich Hunger und habe mir stattdessen etwas zu Essen gekauft; ein Brötchen oder einen Salat, für die Gesundheit.

A: Wie dem auch sei, ähm, Traditionsgemäss werden sie nach Kauf an einem Seidenfaden kopfüber aufgehängt und die glücklichen Eltern schlagen mit kleinen Plastikhämmern die bemalte Porzellanhülle kaputt. Dies kann bis zu einem Tag dauern, womit die natürlichen schmerzhaften und andauernden Wehen nachempfunden werden.

Baum: Das frisch herausgebrochene (erbrochen) Baby muss zur Registration bei der städtischen Verwaltungszentrale für Migration, Verkehr und nachhaltige Entwicklung vorgezeigt werden, wo es auf Produktionsmängel untersucht. Als Gütesiegel wird ein Chip am Ohr befestigt. Die Schweiz garantiert die asiatische Herkunft des Produkts. Folglich sind alle Kinder made in China.
Lichtwechsel. Die Sitzung ist längst beendet. Der Elefant hat sich längst mit seiner besseren Hälfte in der Mensa getroffen, um mit ihm dem Sonnenuntergang entgegenzulaufen.

 

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Politische Arbeit Text

Eine Flüchtlingsfamilie erzählt

RotSPecht, September 2015

Was für ein Nachmittag. Pünktlich um 13:00 traf ich bei der syrischen Familie Alrayyan ein. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich sechs Stunden dort verweilen würde. Und es gab etwas zu feiern: die beiden Söhne Ahmad (26) und Osama (19) erhalten Asyl. Ich kam gleich zu Beginn in den Genuss hervorragender Gastfreundschaft. Es wurde traditioneller Mate Tee mit Nüssen serviert.

Joumana (50), die Mutter hat stets ein Lachen auf dem Gesicht. Sie reisst Witze und schenkt mir immer wieder Tee ein. Sie ist Expertin in der arabischen Hochsprache und arbeitete in Damaskus. Dort war sie an der Hochschule unteranderem für Kulturelle und Soziale Anlässe verantwortlich. Als Lektorin korrigierte sie arabische Übersetzungen bevor diese veröffentlicht wurden. Mehr und mehr wurde aber ihr Arbeitsplatz, besonders der Arbeitsweg zu gefährlich. Busse mit Zivilisten wurden als menschliche Schutzschilder für das Militär benutzt. Unter diesen Umständen konnte sie nicht in Syrien bleiben und weiter arbeiten.

Shukri (53), der Vater schaltet sich ein. Das Problem der derzeitigen Flüchtlingskrise sei, dass man die Flüchtlinge vom Hauptproblem getrennt betrachtet. Man müsse vor Ort in Syrien etwas unternehmen. Die Situation dort wird immer schlimmer. Die Menschen haben keine Nahrung und keinen Strom. Nun ist auch noch die IS einmarschiert. Das Volk wird von zwei Seiten, vom Regime und der IS gemordet. Was sollte man sonst tun als zu flüchten? Viele bleiben natürlich in Syrien und versuchen den normalen Alltag zu leben. Doch dies wird zunehmend erschwert. Für einen Arbeitsweg, den man früher in drei Minuten bewältigte, benötigt man heute eineinhalb Stunden. Strassen sind gesperrt und man muss grosse Umwege machen. Überall sind Checkpoints mit echten oder unechten Soldaten. Sie kontrollieren die Papiere aller Leute, um so Rebellen oder potentielle Soldaten rausnehmen zu können. Es herrscht grosse Willkür und Korruption. Ahmad versucht die rumbrüllenden Soldaten an den Checkpoints zu entschuldigen. Sie stünden den ganzen Tag in der Sonne, können auch nicht ihre Familien sehen und suchen dann ein Ventil für ihre Wut. Immer wieder würden Bombeneinschläge gehört. Man braucht grosses Glück, um am nächsten Tag in Damaskus wieder heil zu Hause anzukommen. Die Bomben seien bestimmt meistens vom Regime, damit die dann lügen können, es seien die Rebellen gewesen, so Ahmad.

Die Familie kam im August 2013 in die Schweiz. Der entscheidende Moment für den älteren Sohn Ahmad die Flucht zu ergreifen, war als er das Kunststudium abgeschlossen hatte und in die Armee gehen sollte. Denn so lange man in Syrien studiert, muss man nicht einrücken. Er versuchte es bei der französischen Botschaft in Libanon. Doch die glaubten nicht, dass er nur zu Besuch nach Frankreich reisen wollte, obwohl dort sein Onkel lebt. Auch ein Studienaustauschprogramm wie Erasmus wurde ihm nicht gewährt. Also überlegte er sich zu Fuss in die Türkei zu gehen und sich in die EU schmuggeln zu lassen. Glücklicherweise gelang es aber schliesslich 2013 der in der Schweiz lebenden Tante eine Einladung für den Familiennachzug zu machen. Alles mussten sie stehen und liegen lassen. Die Eltern hatten eine Karriere. Shukri ist ausgebildeter Mechanik Ingenieur und arbeitete als Autor und TV-Produzent. Ahmad wohnte die meiste Zeit in seinem Vierzimmeratelier, denn er ist Künstler, wie auch sein Bruder Osama. Die Mutter macht Schmuck. Eine sehr kreative Familie. Shukri ist der Meinung, dass sie aufgrund der akademischen Ausbildungen und sehr guten Englischkenntnissen für die Zukunft der Schweiz etwas beitragen könnten und möchten.

Sie reisten von Beirut nach Genf und beantragten Asyl. Die Eltern haben bisher keine Antwort erhalten. Zu Beginn werden alle syrischen Flüchtenden als F eingestuft. Also eigentlich weggewiesen, doch sie dürfen wegen der Gefahr an Leib und Leben nicht zurück geschickt werden und sind vorläufig aufgenommen. Bei der Familie Alrayyan gestaltete sich das ganze noch etwas anders. Der Vater Shukris war Palästinenser. Obwohl Shukri und die Söhne in Syrien geboren wurden und nichts anderes kennen, erhielten sie nur Palästinensische Pässe. Sie gelten schon ihr Leben lang als Flüchtlinge. Sie sind in der Schweiz als zweifache Flüchtlinge und als staatenlos eingestuft. Hier sind sie in Sicherheit, doch macht ihnen das syrische Regime und deren Anhänger immer noch Angst. Sie befürchten, dass sie und die IS sich über die Flüchtlingsströme in der EU einnisten und Terroranschläge verüben werden. Die Familie verfolgt die Geschehnisse über verschiedene Kanäle. Ahmad ist der Meinung, dass der Krieg nur durch die Aufspaltung des Landes ein Ende haben wird: Ein Teil für Russland, einer für den Iran und einer International. Oder Baschar al-Assad stirbt.

Zwischen unseren Gesprächen werden Selfies von Freunden, welche den Weg durch Ungarn gemacht haben, gezeigt. Zudem ist Joumana Tante geworden, denn ihr in Syrien lebender Bruder, auch Künstler, hat Zwillinge bekommen. Freude herrscht, doch auch eine gewisse Bedrücktheit darüber, dass diese jungen Leben in einem derartigen Chaos geboren werden mussten. Die Familie Alrayyan möchte nun in der Schweiz eine neue Zukunft beginnen. Alle Erinnerungen in Form von Fotoalben mussten sie zurücklassen und wollen nun neue Erinnerungen formen. Sie schätzen die Herzlichkeit und Offenheit der Schweizer und Schweizerinnen sehr. Sie fühlen sich willkommen und bereiten sich intensiv auf ein neues Leben vor. Jeden Tag wird Deutsch gelernt, denn sie wollen arbeiten. Sie haben bereits viele Bekanntschaften geschlossen und enge Freunde gefunden. Gerne würden sie aber mehr über das politische System in der Schweiz erfahren und finden es seltsam, dass kein derartiger Bildungsunterricht stattgefunden hat. Die Familie lebt in einer Dreizimmerwohnung in Langenthal. An diesem Nachmittag wurden tolle Gespräche über Essen, Religion, Politik und Freundschaft geführt. Die Söhne machen Ausstellungen, die Mutter präsentiert hier und dort ihren Schmuck und gemeinsam beginnen sie sich hier richtig wohl und zu Hause zu fühlen. Zum Abschluss des Nachmittags wurde ein syrisches Essen angerichtet. Die Zukunft der Familie Alrayyan ist bei uns!

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Tobi 34 (2013)

Angefangen hat alles ziemlich früh, denn ich bin das ganze Leben in Heimen aufgewachsen. Kinderheim Schoren, da war ich. Zuerst Pflegefamilie. Solothurn. In der ersteb Klasse irgendwo im Aargau in einem Heim. Dann eben Schoren. Und dann bin ich rausgeflogen. Bin x Heime ansehen gegangen. Dann bin ich ins Jugendheim Sternen gekommen. Jugendheim Sternen ist ein Heim, welches voll auf Sportpädagogik legt. Wir hatten alles: Gleitschirmfliegen, Surfen, Raften, Cannyoning, Snowboarden. Weisst du, solche Dinge. 20 Jahre bin ich wirklich im Heim aufgewachsen und dann mit 20 rausgekommen. Dann bin ich so in die Partyszene gekommen.

Angefangen Extasy zu nehmen und LSD und so. Eigentlich wirklich Partydrogen. Für Leute die Drogen nehmen, bin ich eigentlich ein Spätzünder. Viele haben schon mit 13 angefangen. Ich bin erst so mit 20 in das Zeug reingekommen. Mit 26 zog ich von Rohrbach nach Glarus. Hatte alles satt. Habe halt wirklich gross gedealt. Im Monat etwa 100’000 Franken umgesetzt. Dann bin ich weg. Alles abgeklemmt. Untersuchungshaft.

Es war mir danach so langweilig. Dann bin zum Kollegen, um Heroin zu kaufen. Der dachte ich wäre schon drauf, der meinte das einfach und hat es mir gegeben. Ja, so hat das eigentlich angefangen. Hab dann angefangen zu rauchen, dann merkst du so nach zwei bis drei Wochen, wenn du nichts mehr hast, dass es dir schlecht geht. Du denkst zuerst du wärst krank. Dabei ist es der Entzug. Der Körper sagt „Nei“. Weil der Körper stellt ja eigentlich jede Droge selber her, oder Adrenalin und Opium. Und wenn du eben Heroin nimmst, gibst du dem Körper mehr als der selber produziert und deshalb kommst du dann auf den Entzug. Das ist ja der Grund. Wenn das nicht so wäre, wenn der Körper das dann ausgleichen könnte, dann, dann hättest du kein Problem. Der Körper kann das aber nicht selber produzieren und braucht es jetzt. Dir geht es dann wirklich schlecht. Du beginnst zu erbrechen – das hat dir bestimmt schon jemand erzählt?

Das ist wirklich… brutal gesagt: du sitzt auf dem WC. Du hockst oder kniest, musst abwechseln. Durchfall, Erbrechen zur selben Zeit. Du hast Krämpfe in den Beinen. Du könntest wirklich alles kaputt machen mit den Beinen. Weisst du, wie ein Tatendrang. So ein Ziehen in den Beinen.

Dann bin ich zum Kollegen: „he mir geits mega schlächt. Jo du bisch ufm Aff. Was Aff? Du kennsch doch das. Bisch doch Druf gsih. Jo nei, vore Wuche woni bi zu dir cho, das isch s’erschd mouh gsih.“

Der hat mich dann vom übelsten in die Mangel genommen. Item. So ist es dann weiter gegangen. Und ich habe ja eine Tochter. Eine achtjährige Tochter mit der Exfreundin.

Wir waren schon zusammen als wir mit den Partys anfingen. Sie nahm nie Drogen. Also ja sicher, Partydrogen. Heroin hat sie nie genommen. Sie nahm die Pille, hat sie aber ab und zu vergessen, also sagten wir, weisst du, lass es sein. Wenn du schwanger bist und es gesund ist, nehmen wirs, behalten wirs. Und dann kam es auch. Nicht wirklich ein Wunschkind, aber auf dem anderen Weg schon. Wir freuten uns wenn es dann passiert, aber es ging so schnell. „Aso jo.“.

Ein halbes Jahr, dann war sie schon schwanger. Die Kleine weiss, dass Papi Medis hat.

Also ich bin im Methadonprogramm, im ZAS: Zentraleabgabestelle. Einfach für Leute die Drogenprobleme haben. Die können Methadon, Valium, Psychopharmaka dort hohlen gehen. „U so.“

Meine Tochter mit so fünf, sechs merkte dann, dass es Papi nicht gut geht. „Lug Noemi Papi: brucht Medikamänt, dassmer guet geit. Wenni die nid ha, de bini fasch so wie chrank eso.“

Aber ihr wirklich zu sagen, um was es geht, dass kann man noch nicht. Da braucht es Zeit. Sie weiss dass Papi Medis braucht. Dann kann ich mit ihr Spass haben. Rumblödeln. Kann so den Tag prästieren, das geht so mit dem Methadon.

Mich haben schon viele gefragt, ob ich mal aufhören will. Ich sage mir, gut ich bin erst 34, aber das Methadon haben sie für Leute erfunden – es gibt Leute auf der Welt die einfach nicht ohne Flash sein können, die das einfach brauchen, nicht ohne sein können. Es gibt ja verschiedene Personen, Menschen. Es gibt halt solche, die das brauchen. Drogen gibt es ja schon seit die Menschheit existiert. „jo so oder. Vo däm här.“

Ja, ich habe viel Kontakt zu meiner Tochter. Manchmal mehr manchmal weniger. Das weiss die Exfreundin auch, also wir haben ein tiptopes Verhältnis. Ich habe eine Zeit lang auf der Gasse gelebt. Sie wusste aber, wenn sie mich anruft, ob ich auf die Kleine aufpassen könnte, damit sie arbeiten kann, tu ich das auch. Ich bin hin und habe keine Drogen genommen. Natürlich habe ich am Morgen meinen Knall gemacht. War den ganzen Tag nicht drauf in dem Sinne, aber kam auch nicht auf den Aff. Aber ich habe bei ihnen zu Hause nie konsumiert. Drei Stunden bevor ich zu ihnen ging, machte ich meinen Knall, damit ich den ganzen Tag durchhalten konnte. Die Kleine merkte so nichts. Das wusste die Exfreundin auch. Wenn die Kleine kommt, nehme ich nichts. Ich hab einfach mein Methadon und sonst nichts.

Im Moment nehme ich nicht mehr so viel.

Ich wohnte mal im TBW, Teilbetreuteswohnen, eben. So. Ja, gut und recht, aber sie sollten strenger sein. Jaja das gibt’s noch. Das ist noch da. Da hinter dem Capitol. Gut und Recht. Bin aber froh bin ich dort weg. Jetzt wohne ich in Roggwil. Wenn du dort rein gehst, sind dort alles Leute, die mit Drogen zutun haben. Dann rutschst du in die alte Verhaltensphase wieder rein. Ziehen. Reissen, irgendwann kannst du nicht mehr nein sagen. Ich sage mittlerweile, dass dort Absturz vorprogrammiert ist. Es gibt schon Teilbetreuteswohnen, die auf das aus sind, dass die Leute lernen ohne Drogen zu sein, aber das hier – „worum sitr nid stränger“. Es sei nicht die Philosophie von diesem TBW. Einfach eine Zeit lang ein Dach über dem Kopf zu haben ist das Ziel. In der Nacht und am Wochenende ist da niemand von den Betreuern. Du kannst nicht immer nein nein nein sagen, irgendwann nimmst du wieder etwas. Seit Dezember hab ich nun eine eigene Wohnung, vorher war ich etwa drei Jahre dort. Erst ein Jahr, dann ein halbes Jahr verlängert, dann drei Monate raus, dann kann man wieder rein.

Ich hatte in Melchnau eine alte Werkstatt als Wohnung. „Mit Näscht ure Chuchi.“ Konnte eigentlich umbauen, dann musste ich aufhören, weil da keine Baubewilligung war, dann hat die Vermieterin mir gekündigt, wieder TBW. Es geht mir gut seit damals, wirklich. Ich bin zufrieden. Ich habe mein Valium pro Tag, sicher hab ich noch was als Ersatz, ich muss den Drogen aber nicht mehr nachrennen. Nehme nur noch Dormicum, eigentlich ein starkes Schlafmittel, Narkotikum. Wenn du Dormicum nimmst, bist du drei bis fünf Stunden weg. Du weisst am nächsten Tag nicht mehr was du gemacht hast. „Das isch das, oder“. Und das bringt’s auch nicht wirklich. Seit ich in Roggwil wohne – es passiert schon immer wieder, dass ich konsumiere, aber ist x mal weniger geworden.

Ich habe eine Ausbildung gemacht. Ich bin ja in Heimen aufgewachsen, insgesamt bin ich zwölf Jahre in die Schule. Erstmals eine Lehre begonnen als Automechaniker. Meine Mutter sagte immer „du bisch nüt, chasch nüt“. Daher hab ich auch keinen Kontakt mit meiner Verwandtschaft. Also wechselte ich in eine Anlehre. Dann habe ich sie bestanden, aber nicht mehr auf diesem Beruf gearbeitet. Dann als Knecht gearbeitet, überall.

Jetzt arbeite ich seit ein paar Jahren nicht mehr. Sozialhilfe.

Wenn etwas da ist, wohinter ich stehen kann, dann ja. Aber kein Beschäftigungsprogramm. Ich finde es wie Sklavenarbeit. Du gehst dort hin, 100%, wie Firma Maximum. Das ist Recycling. Die machen Millionen Umsatz im Jahr und haben nur Sozialempfänger, kein Lohn. Alles fliesst in die Firma. Jaja es ist ein gutes Projekt, aber auch Sklaventreiberei. Sie nutzen die Not der Menschen, um für sie zu arbeiten. Nur 300.- im Monat erhältst du mehr, nicht mehr. 900.- hab ich im Monat. Anders hätte ich 3500.- im Monat wenn ich in einer regulären Recycling Firma wäre. Wenn du regulär arbeiten gehst, hast du 1000.- mehr, darum finde ich es eine Ausnützung der Not der Leute. Sicher ist eine Beschäftigung gut, finde ich auch nicht schlecht aber es ist trotzdem…

Ich bin mittlerweile weniger da als auch schon. Wenn du in der Szene verkehrst, dann hast du „Kollegen“, aber geht’s dir scheisse, hilft dir keiner. Du hast keine Kollegen. Es sind Leute die du kennst, natürlich sagt man Kollegen. Aber so feste Kollegen nicht. Wie auch im regulären Leben, die einfach den Profit draus schlagen wollen. Man muss ziemlich aufpassen. Leute kommen her, „oh die si lieb, dene chani vertroue“. Und fallen dann auf die Schnauze. Wenn ich frage, keiner… alle ööh nä nä ö. Dann wollen sie nichts mehr wissen von dir. Jeder probiert seinen Profit rauszuschlagen.

Mir geht’s scheisse, wenn ich kein Essen kaufen kann, wenn ich kein Geld habe. Dann geht’s mir scheisse. „Chamer öppr häufe?“, frag ich bei jenen denen ich schon geholfen habe. Dann heisst’s „oooh, neinei“. „He sorrry.“ Ich hab auch schon geholfen, dann kann mir doch auch jemand helfen. Ein Geben und ein Nehmen. Wenn ich mal Hilfe brauche, wenn jemand Brot hat oder egal was, es hilft dir niemand! Zu 90% ist jeder auf seinen eigene Profit aus. Die anderen 10% sind was anderes.

Wir haben’s gut miteinander, aber wenn’s um handfeste Dinge geht, Helfen, Ausleihen – „vergisses!“ Erstens Müsste von der Stadt her etwas ändern. Hier sitzen Leute, überall. Sitzen zwei Leute von uns dort auf der Mauer, zehn Minuten später ist die Polizei da. Wir erhalten einen Perimeterverbot. Es ist immer nur gegen uns. Wir sind ja nicht die, die eine Morerei machen. Glasscherben sind die von der Traube, vom Chrämerhuus und vom Spaniöggu.

Schublade auf, alles rein, das sind jene die Scheissdreck machen.

Wenn die Polizei kommt, sind wir schuld. Eine andere Gruppe kann da sitzen, saufen und tun, die Polizei aber macht nix. Die kommen einfach zu uns. X mal schon ist das passiert. Wir hatten einfach unser Bier in der Hand, wir grüssen die Leute und sind anständig. Uns sagt man, dass wir verreisen sollen. Den anderen geschieht nichts.

Wir haben den Platz zugesprochen. Es passiert ja auch nichts. Wir pöbeln die Leute nicht an. Es kommt auf die Zeiten drauf an, wenn du am Vormittag kommst, ist es ruhig wie jetzt. Am Abend gibt es sicher diejenigen die spinnen, dann gibt’s auch jene von uns die sagen, „jetzt längts. Gang hei.“ Aber von der Polizei und der SIP kommen sie immer, immer nur zu uns. Die kommen nur zu uns, ich habe die noch nie mit anderen Leuten reden sehen. Sie jagen uns weg, aber zu anderen gehen sie nicht, das ist eben scheinheilig. Sonst immer: „dir dir dir“.

So wie jetzt, dass es immer Leute gibt, die die anderen Leute ermahnen und sagen „itz höret uf seich mache“, ist gut. Jetzt im Moment ist es ja wirklich friedlich. Niemand streitet sich, oder ist besoffen, am kiffen, am drögelen oder fixen, keine Dealerei… „jo. Nüt“.

Es heisst immer wir dealen, spritzen. Sicher. Ich hab auch schon Pumpen gefunden, von Leuten aber, die wir gar nicht kennen und nicht hier verkehren. Viele Leute in Langenthal, die Drogen nehmen, tauchen in der Öffentlichkeit gar nicht auf. Dann wird immer auf uns gezeigt, die, die da hinten sitzen. Immer eine Entschuldigung dafür erfinden als wirklich etwas zu unternehmen, das können sie gut! Am Abend vor allem. Am Abend sind wir nicht mehr hier. Am Abend ist von unserer Seite fertig. Durch den Tag und dann fertig. Die das Zeug versprayen und Flaschen zerstören, sind andere.

Als die Szene noch da war, mit Stühlen und Tischen, das war am Morgen in der Langette von den anderen reingeworfen. Immer werden wir runtergedrückt.

Es passieren schon immer wieder Dinge. Vor einem halben Jahr war es noch schlimmer als jetzt. Viele haben einen Perimeter oder sind in Haft, jetzt sind noch die Anständigen geblieben. Die Leute, die friedlich sind, keine Streitereien und so. Sicher gibt es Auseinandersetzungen, aber die sind schnell beigelegt. Bier zusammen trinken und fertig.

Ich trinke schon. Heute hatte ich sieben Biere. Ich habe kein Alkoholproblem, „Ne Nei“. Wenn man jeden Tag trinkt, heisst es man sei Alkoholiker. Ich könnte schon ohne sein. Hohle mein Methadon, geh in den Aldi und sitze hier. Aber ich bin nicht so, dass ich besoffen werde. Sicher manchmal angesäuselt. „Eso oder jo“. Ich habe keine Alkoholprobleme. Ich kann x Tage ohne Bier sein, kein Problem für mich.

Wunschdenken. Ich wünsche mir nicht viel. Ich lebe. Ich lebe das Leben wies kommt. Ich denke nicht Jahre voraus. Ich kann nicht sehen, wie ich in zehn Jahren bin. Sicher, ich will ein gutes Verhältnis mit meiner Tochter haben auch noch wenn sie 18 ist. Methadon werde ich für immer behalten. Mir geht es gut mit dem. Man merkt ja mir nicht an, dass ich – „gring dung oder so“. Es stimmt für mich. Solang es für mich stimmt, was die anderen sagen ist mir egal. Ich muss mich wohl fühlen. Ich habe runtergeschraubt, selten Dormicum, für mich stimmt’s. Ich kann so dahinter stehen. Für mich ist es ok. Dort möchte ich auch in zehn Jahren sein, dass ich sagen kann, dass es für mich so gut ist. Geld ist nicht das Leben. Leben ist das, was du damit machst. Wie du mit den Leuten umgehst. Das ist das Leben, mit den Leuten zusammen, „jo, eh schwär zsäge“. So möchte ich weiterhin leben, so stimmt es für mich. Ich habe keine Gebrechen. Ich bin gesund.

Das schlimmste war die Diagnose der Hepatitis C. Aber ich hatte nur 7000 Viren. Es könnte sein, dass mein Körper das selber heilt. Am Freitag erfahre ich dann, wie es aussieht. Es gibt 20% der Leute, die Hepatitis C selber heilen können. Eh, ich denke dass ich ausversehen eine falsche Spritze genommen habe. Ich bin sonst wirklich vorsichtig, aber damals habe ich eine falsche genommen, eine der Kollegin. Aber beim Sex ist die Chance nur 1%. Das ist jetzt zwei Jahre her – noch nicht lange. Deshalb kann ich froh sein, dass es mein Körper eventuell selber abwehrt. Jetzt kommen eh neue Therapien auf den Markt. Mit dem Kortison, damit hörten viele auf, da gehst du kaputt. Der Arzt sagte ich solle keine Angst haben, neue Medis kommen auf den Markt. Ich habe es nicht pressant. Ich bin ehrlich und sage, dass wir verhüten müssen. Ich sage, dass ich drogenabhängig bin. Ich knalle abundzu, nicht viel, ich steh aber dazu. Es ist nicht gut, wenn man versucht es abzustreiten. Deshalb stehen nicht alle dazu. Ich nehme abundzu Kokain, Dormicum. Dann können die Leute selber sagen, ob sie mit mir etwas zu tun haben wollen. Deshalb bin ich immer ehrlich und offen.

In der Szene in Langenthal bin ich seit vier Jahren. Vorher war ich in der Szene in Bern. Bin aber wieder zurück nach Langenthal gekommen, es hat mich hingezogen. Auch weil im TBW halt etwas frei war. Ich war im Gefängnis und die hatten dann einen Platz frei. Das war eigentlich der Grund. Nach Bern wollte ich nicht zurück. Da wäre ich in der Gasse an der Anlaufstelle gelandet. Deshalb bin ich hier in Langenthal, dass ich nicht weiter abstürze. „Jo iz weissi nüm meh zsäge.“

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Glasmurmeln

Tränen tanzen.
Glasmurmeln schnurren im Schlaf.
Fingerspitzen kratzen und reissen Fratzen.
Efeublätter werden rot.
Das Wasser im See welkt.
Spiegel kehren den Rücken.
Federleicht schweben Worte.

nichts wird sein, wie es war.
einmal vollendet umgekehrt.
zurückgewichen und weggedrängt.

Glasmurmeln wachen nicht mehr auf.