Gesehen am 9.1.16 im Theater NO99 in Tallinn.
Ein Clown liegt auf einem Sterbebett, er wartet auf das Ende, doch es kommt nicht. Die Bühnenfläche ist rund. Er erhebt sich und geht umher mit einem Kerzenständer, diesen stellt er in die Mitte der Bühne. Ein Mönch und fünf weitere Clowns betreten die Bühne mit etlichen Gegenständen. Als ob sie den Theaterfundus geräumt hätten. Vieles tragen sie in den Händen oder schieben es in einem der zwei Einkaufswagen hin und her. Alle setzen sich gleichzeitig in Bewegung und gehen auf der Bühne im Kreis, nahe am Rand. Einer der Clowns zieht den sterbenden Clown hinter sich auf einer Decke. Dieser Marsch dauert sehr lange, nach ca. 20 Minuten unterbricht der sterbende Clown seine Untertanen. „Nicht genug, nicht genug“, schreit er. Seine Untertanen begreifen nicht, sind erschöpft, wissen sich nicht zu helfen. Die Bühne beginnt zu drehen, alle richten sich irgendwie auf der Bühne häuslich ein mit ihren Gegenständen. Lange passiert in diesem Stück nicht viel. Dramaturgisch sehr einfach aufgebaut: Gegenstände ohne sichtlichen Nutzen werden von Ort zu Ort getragen, verlegt etc. Die Figuren sprechen nicht und beschäftigen sich lange mit einer Aufgabe, dem Verlegen ihrer Gegenstände.
Es scheint, als versuchten die Clowns und der Mönch auf diese Weise ihrem Oberclown, dem Sterbenden gerecht zu werden. Ein Kreuz wird errichtet.
Später zeigt sich, dass jede Figur ihre Eigenheit hat. Der eine jammert beispielsweise immer und geht gebückt und die eine geht steif wie eine Puppe und hat Spangen in den Mundwinkeln, was ihr das Schliessen des Mundes unmöglich macht. Die Geschlechter spielen vorerst keine Rolle. Bei einer Figur war zu Beginn nicht klar, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Darsteller handelt.
Der Oberclown hat Macht über seine untertänigen Clowns, weil er deren Hoden in Form von farbigen Bällen besitzt. Dem jammernden Clown gibt er sie zurück. Handlungen setzen ein. Viel des Gespielten ist zweideutig und sexistisch, was mich oft zum lachen brachte. Die Hoden werden dem Jammerer mit starkem Klebeband um das Gesäss gebunden.
Eine Figur kann Gegenstände gebären oder auskaken, jeder möchte davon etwas abbekommen. Es geht um Gier und Besitz. Schon vorher wurden zwei Figuren mit diesen Themen konfrontiert: Ich würde sie als Adam und Eva Szene deuten. Sie versuchten an einen Apfel zu kommen, um ihn nur anzubeissen.
Immer wieder stirbt eine Figur. Weil die Wehen zu stark sind, die Gedärme raushängen oder die Axt sie zerhackt hat. Sie stehen aber immer wieder auf.
Am Ende scheint alles vollbracht. Es beginnt zu regnen. In einem Kreis, ca. 1 m vom Bühnenrand entfernt, fällt Wasser. Wie eine Grenze zwischen Innen und Aussen, eine Wand aus Wasser. Die Figuren befinden sich entweder drinnen im Trockenen oder draussen im Nassen.
Der Mönch kniet vor dem Kreuz, es hört auf zu regnen. Alle anderen Figuren stehen im hinteren Teil der Bühne, welche nicht mehr dreht. Der Oberclown bittet den Mönch zu sich und vergewaltigt ihn mit Karotten. Eine brutale Szene.
Dann lädt der Sterbende alle zu einem Festessen ein. Es gibt Apfel. Der Oberclown sitzt in der Mitte und schneidet seinen Apfel gekonnt in Stücke. Der gebärende Clown mag wohl keinen Apfel und steckt sich diesen unter die Skimaske, so als ob er es aufgegessen hätte. Daraufhin geben ihm alle anderen ihre restlichen Apfelstücke, weil sie denken, er hätte noch hunger. Letztendlich ist die Skimaske voll mit Apfelstücken, was ziemlich ulkig aussieht.
Der Oberclown ist nun bereit zu sterben. Er wird auf den Tisch geschraubt. Mit Seilen wird er an allen vier Gliedern gezogen. In diesem Stück geht es sehr stark auch um Körperlichkeit und um die Folter des Körpers. Der Gebärende sägt den Oberclown in der Mitte durch, heraus kommen rote Plüschbällchen, die Gedärme. Über der Bühne hängt seit Beginn ein kleines, umgekehrtes Zirkuszelt, dieses öffnet sich nun und tausende goldene Kugeln fallen auf den Sterbenden. Er erhebt sich und badet gemeinsam mit dem Gebärenden im Reichtum.
Ein einfaches Stück. Nichts Überraschendes aber eine starke schauspielerische Leistung. Schön anzuschauen, nicht langweilig und auch für nichtestnisch Sprechende gut verständlich, da kaum gesprochen wurde, die Bilder erzählten genug. Ein Stückchen estnischen, zeitgenössischen Theaters.
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